“Du nimmst einem aber auch alles übel.” Das hast Du wieder ‘mal in den falschen Hals bekommen.” “Was bist Du denn jetzt gleich wieder so gereizt?” Kommen Dir Sätze wie diese bekannt vor? Dann könnte es sein, dass Du viel mehr als die “beleidigte Leberwurst” bist – in diesem Beitrag möchte ich Dir das Konzept vom Leben als hochempathischer Mensch näherbringen.Was ist Empathie eigentlich?
Empathie ist die Fähigkeit des Menschen, sich in die Gefühlswelt anderer hineinversetzen zu können – also sowohl ihren Schmerz und ihre Freude als auch ihre Sorgen und Hoffnungen nachzufühlen und zu verstehen. Die Fähigkeit, empathisch zu sein ist relativ weit verbreitet – wenn auch nicht so weit, wie wir uns das manchmal wünschen würden. Es gibt auch noch eine Steigerung davon: Hochempathische oder hochsensible Menschen haben häufig das Gefühl, alles zu spüren. Und das kann Fluch und Segen zugleich sein.
Das Leben als hochempathischer Mensch: Merkmale
Der Begriff Hochsensibilität ist relativ weit verbreitet und Hochsensible weisen viele Gemeinsamkeiten mit Hochempathen auf. Aber: Bei hochempathischen Menschen steht die Fähigkeit, sich in andere hineinzufühlen, deutlich im Vordergrund. Nachfolgend möchte ich einige Merkmale auflisten, die einen hochempathischen Menschen ausmachen. Wenn auch Du zu diesen Menschen zählst, wirst Du Dich bestimmt in einigen davon wiedererkennen.
Öffentliche Plätze und Menschenansammlungen überfordern Dich
Konzerte, überfüllte Kaufhäuser, endlose Schlangen im Supermarkt oder Weihnachtsmärkte am Wochenende: Viele Menschen auf engem Raum hältst Du in der Regel kaum aus. Viel zu viele Eindrücke und Emotionen treffen dort aufeinander und lassen sich nur sehr schwer ausblenden. Ich war beispielsweise nur zweimal in meinem Leben auf einem Konzert. Beide Male bin ich umgekippt. Damals war ich der Ansicht, dass mein etwas zu niedriger Blutdruck der Auslöser dafür war. Im Nachhinein wird mir aber immer stärker bewusst, wie unwohl und überfordert ich mich dort gefühlt habe.

Gewalt, Grausamkeit und tragische Szenen im Fernsehen empfindest Du als unerträglich
Mein Umfeld ist immer ganz von der Rolle, wenn ich mich “oute”: Ich habe noch keine einzige ganze Folge Game of Thrones gesehen. 10 Minuten roher Gewalt reichten, um mir die Lust darauf zu verderben. Ich muss bei emotionalen oder dramatischen Szenen auch immer wieder eine Träne verdrücken. Früher dachte ich, ich sei einfach etwas nah am Wasser gebaut. Je mehr ich jedoch über das Leben als hochempathischer Mensch lese, desto klarer erscheint der Grund für mein (auf Außenstehende übertrieben wirkendes) Mitgefühl.
Ständige Müdigkeit
Hochempathen nehmen pausenlos Eindrücke, Gefühle und Reize auf. Dieses Übermaß an Einflüssen kann auf Dauer wirklich ermüdend sein. Auch ich habe mich zum Beispiel immer schon gefragt, wieso ich ein solch ausgeprägtes Schlafbedürfnis habe. Und das, obwohl ich mir immer ausreichend Schaf gönnte. Zudem brauche ich, um erholsam ruhen zu können, ein dunkles, ruhiges Zimmer. Wenn ich mich bei Freunden im Urlaub darüber aufregte, dass es in einem Hotel keine Jalousien gab, stieß ich immer nur Unverständnis: “Mach’ doch einfach die Augen zu.”
Mittlerweile weiß ich: Mein Bedürfnis nach absoluter Ruhe und Entspannung ist einfach stärker ausgeprägt als bei anderen Menschen.

“Kummerkasten” für andere sein
Schon als Jugendliche haben mir Freundinnen immer wieder gesagt, dass man sich bei mir einfach “am besten ausweinen” könne. Es war nahezu unerträglich für mich, andere leiden zu sehen, egal ob ich sie gut kannte oder nicht. Ich konnte immer genau nachvollziehen, wie schlecht sie sich fühlen und wie sehr sie jemanden brauchen, der für sie da ist.
Hochempathen sind daher die geborenen “Tröster”. Dieser Punkt ist an sich ist natürlich etwas Positives, kann aber auch anstrengend werden.
Oftmals passierte es, dass ich mich von den auf mir “abgeladenen Emotionen” überfordert fühlte, dieser Last eigentlich gar nicht gewachsen war.
Die Fähigkeit, Kummer aufzunehmen, funktioniert auch in eine andere Richtung: Mir ist es immer sofort aufgefallen, wenn jemand angefressen oder enttäuscht war, dies aber nicht verbal kundtat. Und besonders stark reagiere ich auf sogenannte “Energie-Vampire”, von denen ich mir schnell die Laune verderben lasse.
Mein Bedürfnis, für andere da zu sein und ihnen helfen zu wollen äußerst sich zudem in meiner nicht vorhandenen Fähigkeit, auch ‘mal “Nein” zu sagen.
Ausgeprägte Verbundenheit mit der Natur und Liebe zu Tieren
Draußen sein, den ruhigen Klängen des Waldes zu lauschen, die Ursprünglichkeit zu fühlen, abseits vom Trubel und Lärm des Stadtlebens. Die Natur hat eine heilsame Wirkung auf meinen Gemütszustand. Ich war lange Zeit der Meinung, ein “Stadtmensch” zu sein. Das Angebot an Kultur, Infrastruktur und Kulinarik schätzte ich sehr. Mit den Jahren merkte ich aber mehr und mehr, wie überfordert ich teilweise von der Hektik und den vielen Sinneseindrücken in der Großstadt bin. Die Natur ist mein Kraftplatz, sie nährt und stärkt Körper und Geist.
Auch Tiere waren schon immer ein fester Bestandteil meines Lebens – seit fast einem Jahr bereichert nun der Jagdhund-Mischling Bjarki mein Leben.
Ich fühle mich mit Tieren tief verbunden, ertrage es nicht, sie leiden zu sehen. Wenn in einem Film ein Hund stirbt, muss ich mir das ein oder andere Tränchen verdrücken.
Starkes Bedürfnis nach Alleinsein
Hochempathische Menschen, die nicht ausreichend Zeit für sich allein haben, können den dadurch entstandenen Unmut depressiv oder aggressiv äußern. Sie benötigen ausreichend Zeit und Raum, um sich von den vielen Energien und Eindrücken zu erholen, die tagtäglich auf sie einprasseln. Bei mir ist es ebenfalls so: Zu viel Nähe hat mich immer schon überfordert. Das war auch der Grund, weshalb ich zu Beginn meines Studiums nicht in eine WG ziehen wollte, obwohl ich in der Großstadt kaum jemanden kannte.
Die Vorstellung, Freunde einzuladen, wenn ich Lust darauf habe – und diese dann aber auch irgendwann wieder gehen, gefiel mir. Ich war schon sehr früh überfordert von Freundschaften oder Beziehungen, die allzu symbiotisch verliefen und behielt mir daher immer gerne meine eigenen Hobbies, meinen eigenen Freundeskreis und meine Zeit für mich.
Regeln und Routinen: Der “Kampf” mit den Einschränkungen
Ob am Arbeitsplatz, in der Schule oder der Uni: Strikte Regeln waren noch nie meins. Ich verabscheue Deadlines, Briefings, strukturierte Abläufe. Daher konnte ich mir auch nie vorstellen, später einem klassischen “9-to-5-Job” nachzugehen.
Auch Autoritäten sind nichts, womit ich mich anfreunden konnte. Diese Eigenschaften klingen “rebellisch”, sind aber laut meinen Recherchen unter hochempathischen Menschen sehr verbreitet. Damit hängt auch der nächste Punkt zusammen:
Hochempathen brauchen Aufgaben, die sie erfüllen
Alles in meinem Leben, was mich nicht zu 100 % erfüllt hat, fiel mir sehr schwer. Ich schaffe es auch heute kaum, mich zu Dingen aufzuraffen, die mit keine besondere Freude machten. Als Teenie wurde viel Schule geschwänzt, Hausaufgaben “vergessen”, andere unliebsame Tätigkeiten einfach verschoben und des Öfteren Schule und Beruf gewechselt.
Mir hat es dann aber sehr geholfen, mir ein Ziel zu setzen, beispielsweise die Matura – um danach das tun zu können, was mir Spaß macht. Die Schule habe ich eben als notwendig zur Erreichung dieses Ziel angesehen. Mittlerweile versuche ich, mich auch von Tätigkeiten, die mir keine Freude machen, nicht demotivieren zu lassen und meine Energie umso mehr in die Dinge zu stecken, die ich gerne mache. Denn: Was man gerne macht, macht man gut.
Arrogant, unsympathisch oder scheu: So wirken Hochempathen auf Andere
Hochempathische Menschen fühlen die Stimmungen und Launen ihrer Mitmenschen auf besonders starke Art und Weise. Da kann es auch ‘mal vorkommen, dass die negativen Schwingungen anderer Menschen sich auf den Gemütszustand des Hochempathen auswirken und für schlechte Laune sorgen. Da hochempathische Menschen meist nicht besonders begabt darin sind, Gefühle vorzuspielen, wirken sie an solchen Tagen schnell verschlossen und schlecht gelaunt. Schon des Öfteren bin ich von anderen Menschen als “unsympathisch” oder “scheu” eingestuft worden, da auch ich Emotionen nur schwer unterdrücken kann und unsere Gesellschaft es nicht gewöhnt ist, dass Gefühle offen gezeigt werden.
Ist das Leben als hochempathischer Mensch nun Fluch oder Segen?
In meiner Pubertät gesellte sich zu meinem ohnehin schon “dünnen Nervenkostüm” auch noch die Umstellung der Hormone, die alles durcheinander brachte. Von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt wechselten meine Launen täglich, vor allem Menschen mit Hang zum Drama brachten meine Stimmung schnell aus dem Gleichgewicht. Mir war nicht bewusst, wie betroffen mich die mir anvertrauten Geschichten von Mitmenschen teilweise machten, wie sehr ich mit Kritik zu Herzen nahm und dass ich einfach ausreichend Zeit für mich allein brauche.
Seitdem ich mich mehr und mehr mit dem Konzept vom Leben als hochempathischer Mensch auseinandersetze, wird Vieles klarer und es fällt mir auch leichter zu akzeptieren, dass ich einfach ein wenig “anders” bin als die meisten meiner Mitmenschen. Schätzungsweise haben nur um die 15 % der Bevölkerung die Fähigkeit, hochempathisch zu empfinden. Ich versuche nun, dies als “Gabe” zu sehen und nicht mehr als “Leiden”. Ich kann Menschen verstehen, mich in sie hineinfühlen, sie unterstützen oder inspirieren. Das sind doch in einer Welt, die von Egoismus, Machtgier und Materialismus regiert wird, wichtige Eigenschaften, oder etwa nicht?
Wissenschaftliche Erklärungen
Die Welt wie wir sie heute kennen, ist leider weit von einer lebensfreundlichen Umgebung für Mensch und Tier entfernt. Das ist auch der Grund, warum es immer mehr hochempathische Menschen “gibt”: Die Hektik, der Stress, die immer enger werdenden Lebensräume überfordern solche Menschen jeden Tag aufs Neue. Hochempathie ist zwar nicht zu 100 % das Gleiche wie Hochsensibilität – dennoch gibt es viele Parallelen. Das Gehirn von hochsensiblen Menschen wurde schon erforscht. Daher möchte ich Dir im Folgenden noch kurz erklären, inwiefern das Gehirn anders arbeitet, wenn Du einfach “alles” spürst:
Die Psychologin Elaine Aron untersuchte die Funktionsweise des Gehirns von Hochsensiblen gemeinsam mit ihrem Ehemann, ebenfalls Psychologe an der State University in New York. Mit einem Forscherteam fanden sie so einige neurologische Besonderheiten: Für die Untersuchung wurde chinesischen Studenten eine Serie von Landschaftsbildern gezeigt, jedes Bild unterschied sich leicht bis gravierend von den anderen. Während die Studienteilnehmer die Veränderung benennen sollten, zeichneten die Wissenschaftler deren Gehirnaktivität auf.
Probanden, die als hochsensibel galten, beanspruchten eher die Regionen im Gehirn, die mit visueller Aufmerksamkeit und Augenbewegungen in Zusammenhang stehen. Die Unterschiede in den Bildern wurden von ihnen außerdem langsamer, aber nicht weniger treffsicher gefunden. Daraus schlossen die Forscher, dass Hochsensible stärker auf Details achten und zudem bei der Reizverarbeitung mehr Zeit brauchen.
Evolutionsbiologisch gesehen ist ein solches Verhalten schlüssig: Biologen fanden heraus, dass es auch in Gruppen von Tieren, also Rudeln, Individuen gibt, die eher impulsiv handeln und solche, die beobachten und abwägen, bevor eine Handlung folgt, da sie den Reiz zuerst verarbeiten. Eine gesunde Mischung aus diesen beiden Verhaltensweisen wird von den Wissenschaftlern in Rudeln als optimal angesehen, da so bessere Überlebensstrategien entwickelt werden können.
5 Tipps für den Alltag als hochempathischer Mensch
Du siehst: Du bist also nicht komisch, machst nichts falsch und musst Dir keine Vorwürfe machen. Hochempathische Menschen können auch in unserer hektischen Zeit ein erfülltes, glückliches Lebens führen – wenn sie sich an ein paar einfache Tipps halten. Hier sind fünf einfache Tipps, die mir persönlich ungemein helfen:
- Verbringe nicht zu viel Zeit in sozialen Netzwerken. Steig’ aus “hitzigen” Diskussionen über kontroverse Themen früh genug aus, damit sie Dir nicht zu nahe gehen.
- Vermeide es weitestgehend, Nachrichten zu sehen. Besser: Hör’ Radio oder lies’ sie in der Zeitung.
- Nimm Dir genug Zeit für Dich. Auch genügend Ruhephasen zum Abschalten sollten in Deinem Tagesablauf eingeplant werden.
- Sprich’ es aus, wenn Dir eine Konversation über ein emotionales Thema zu viel wird.
- Nutze die Natur als Kraftplatz, um die Stille zu genießen und Deine Speicher wieder aufzufüllen.
- Lebe Deine Kreativität aus: Malen, Schneidern, Fotografieren, etc. – Hochempathen sind visuelle Menschen, die einen Sinn für das Schöne haben.
- Umgib’ Dich nicht mit “Energievampiren”, die Dich nur als “Mülldeponie” ihrer Gefühle benutzen. Menschen, die das Leben so nehmen, wie es kommt und versuchen, das Positive zu sehen, sind geeignete Freunde für Dich.